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Predigten von Pfarrer Martin Vorländer: Johannes 1, 35-42 Was ist Ihre Berufung?

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'Digital (raytracing) teleidoscope animation', 2010, Nadjas

5. Sonntag nach Trinitatis

Was ist Ihre Berufung? Johannes 1, 35-42


Predigt gehalten von Pfarrer Martin Vorländer am 24. Juli 2011 in der Dreikönigskirche

Der erste Eindruck

„Hüten Sie sich vor dem ersten Eindruck – er könnte der richtige sein!“ Was geschieht, wenn sich zwei Menschen begegnen, die sich noch nicht kennen? Sie schauen sich in die Augen. Jeder gewinnt vom anderen einen ersten Eindruck. Intuitiv erahnt man das Wesen des Gegenübers. In einem solchen Augenblick bündeln sich in Bruchteilen von Sekunden alte Erfahrungen, gute und schlechte Erinnerungen, Gefühle, die man so schnell gar nicht beim Namen nennen kann, wie sie in einem aufsteigen. Das, was man in diesem einzigen Moment wie eine Eingebung über die Person des anderen bekommt, lässt sich kaum mit Worten beschreiben. Man weiß es einfach. Der erste Eindruck, so sagt man, täuscht selten. Der Mensch, der einem da gegenübersteht, hinterlässt im eigenen Inneren eine Spur.

Kaleidoskop der Zukunft

Sein Wesen, seine persönliche Eigenart drücken sich in Herz und Seele ab. Der erste Eindruck senkt sich umso tiefer ein, wenn die erste Begegnung sich im Nachhinein als der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, einer großen Liebe oder einer anderen ganz besonderen Verbindung zwischen zwei Menschen herausstellt. „Ich weiß noch genau, wie ich dich zum allerersten Mal gesehen habe“, sagt man dann zum Beispiel rückblickend. Die erste Begegnung ist wie ein Kaleidoskop der Zukunft: In ihr leuchten auf einmal die vielen Farben und Facetten auf, die die gemeinsame Geschichte im Laufe der Zeit zum Vorschein bringen wird.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag erzählt von solchen eindrücklichen ersten Begegnungen, bei denen von Anfang an alles klar ist. Die Jünger, die erst im Verlauf der Begegnung zu Jüngern werden, sehen zum ersten Mal Jesus. Ich lese aus dem Johannesevangelium im ersten Kapitel die Verse 35 bis 42.

'Christus erscheint dem Volke', 1837-1857, Alexandr Andreevich Ivanov

Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi - das heißt übersetzt: Meister -, wo ist deine Herberge? Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen's und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde. Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte. Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.

Gott segne unser Hören und Reden. Amen.

Verweilen in der Passage

Diese Passage aus dem Johannesevangelium ist eine, durch die man leicht beim Bibellesen hindurchschreitet, meist ohne sich länger in ihr aufzuhalten. Ah, eine Jüngerberufung, denkt man. Alles klar. Verweilt man doch – so wie wir heute, gibt es in dieser Bibelpassage viel zu entdecken.

Who is who

Vorweg ein kurzes „who is who“, wer ist wer in dieser Berufungsgeschichte: Johannes der Täufer sieht Jesus vorübergehen. Zwei Jünger des Täufers hören, was der Täufer über Jesus sagt. Der eine Jünger ist Andreas, der Bruder von Simon Petrus, ein Sohn eines Mannes, der ebenfalls Johannes heißt (ein anderer Johannes, nicht der Täufer). Der zweite Jünger wird nicht namentlich genannt. Zum Schluss wird Simon von seinem Bruder Andreas zu Jesus hinzugeholt.

Geschichtsstrom und Lebensader

Begeben Sie sich mit mir in Gedanken nach Israel, an das Ostufer des Jordans. Der Jordan ist kein großer Strom wie der Main, eher ein Flüsschen wie die Nidda. Aber er ist geschichtsträchtig und bedeutsam: Durch den Jordan zog das Volk Israel nach 40 Jahren Wüstenwanderung ins Gelobte Land. Der Jordan ist bis heute die Quelle für das Wasser in der ganzen Region. Führt der Jordan wenig Wasser, droht Dürre in Israel und Jordanien. Ist der Jordan reich gefüllt, blühen die Länder auf.

'Agnus-Dei: The Scapegoat', between 1886(1886) and 1894,  James Joseph Jacques Tissot

Ad fontes

Dieser Geschichtsstrom, diese Lebensader war der Wirkungsort für Johannes den Täufer. Hier predigte er, dass das Gericht Gottes unmittelbar bevorsteht, dass nur sofortige Buße und eine Taufe im Jordan davor retten kann. Johannes stellte sich mit dieser Predigt auch kritisch gegen den Tempel in Jerusalem: Alle Reinigungsrituale und Sühnopfer am Tempel helfen nichts. Ihr müsst zurück zur Quelle, hier an den Jordan, wo die Geschichte Israels im Gelobten Land begonnen hat.

Suche nach Wegen aus der Krise

Die Predigt und Taufe des Johannes hat viele Menschen aus den Städten und Dörfern an den Jordan gezogen. Johannes hat eine ganze Jüngerschar um sich versammelt. Es gab in Israel damals viele Gruppen, die das Land in einer tiefen inneren und äußeren Krise sahen und die aus der Krise heraus einen radikal anderen Lebensstil suchten: Die Zeloten probten auf politisch umstürzlerische Weise den Aufstand gegen die Römer, zur Not auch mit Gewalt. Die Essener versuchten es mit Rückzug aus der Gesellschaft, lebten in abgeschiedener Gemeinschaft in strenger Askese mit täglichen Reinigungsriten, um sich von Sünden zu befreien. Johannes vertrat die eine Taufe: Ein für alle Mal Rettung aus den Sünden vor dem drohenden Gericht durch das Wasser. Aber er schränkte seine eigene Wirkmächtigkeit ein: „Ich taufe mit Wasser“, sagt er. „Aber es wird einer nach mir kommen, und ich bin nicht wert, dass ich seine Schuhriemen löse.“

Ein Satz lässt aufhorchen

Unter den Jüngern des Johannes am Jordan war ganz offenbar auch Jesus. Die beiden waren ungefähr gleich alt, um die dreißig – Johannes, so erzählt es der Evangelist Lukas, war genau sechs Monate älter als Jesus. Jesus geht vorbei. Johannes sieht ihn und sagt: „Siehe, das ist Gottes Lamm!“ Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt – so singen wir beim Abendmahl die Worte von Johannes dem Täufer. „Siehe, das ist Gottes Lamm!“ Dieser eine Satz lässt zwei von den Jüngern des Johannes aufhorchen. Sie verlassen den Täufer und folgen Jesus nach. Nur auf diesen einen Satz hin: „Siehe, das ist Gottes Lamm!“

Kein Wunder, kein Löwe

In anderen Berufungsgeschichten wie in der aus dem Lukasevangelium, die wir in der Lesung gehört haben, ruft Jesus seine künftigen Jünger direkt aus ihrem Berufsalltag heraus. Und die frisch berufenen Jünger bekommen gleich eine Vorstellung, was ihr neuer Meister kann: Er hat sie das Wunder eines übervollen Fischfangs erleben lassen. Hier im Johannesevangelium tut Jesus kein Wunder, auch nicht ein klitzekleines Zeichen. Johannes der Täufer kündigt Jesus auch nicht groß an: „Seht, hier kommt der Löwe Israels.“ Nein, kein brüllender, starker, mächtiger Löwe – ein Lamm. Gottes Lamm.

Unendlich sanft

Gottes Kraft kommt unendlich sanft in die Welt, in unser Leben. Ohne Machtdemonstration, ohne Zwang zur Unterwerfung, ohne Gewalt. In einer Welt, in der Gewalt herrscht, in unserer Welt, die gerade erst wieder in Oslo und auf Utoya von schrecklicher Gewalt erschüttert wurde, ist das ein erlösender Kontrast. Ein Lamm, das alles trägt und auf sich nimmt, was uns von Gott trennt, was die Welt zu zerreißen droht. Das Lamm - ein Sinnbild für Geduld. Geduldig nicht erst im Tod, sondern schon im Leben. Geduld ist die Gabe, die befähigt, Leiden, Schmerzen, Unglück und Versagen zu überwinden – statt vor lauter Selbsthass und Hass auf andere Leben mit Gewalt zu vernichten. Geduld ist keine Eigenschaft, bei der die Hände im Schoß liegen oder kraftlos herabsinken. Ein geduldiges Lamm ist kein dummes Schaf. Geduld ist eine Tugend, mit der ein Mensch tapfer und standhaft Nöte und Gefahren bewältigt – so wie Jesus.

'Ecce agnus dei', 1455-60, Giovanni di Paolo

Geduld Jesu

Jesus hatte Geduld mit Kranken; mit denen, die sich für außerordentlich fromm halten, mit Menschen, die das genaue Gegenteil tun. Geduld mit seinen gelegentlich begriffsstutzigen Freunden, mit hinterlistigen Feinden, mit Kindern und Erwachsenen. Geduldig ist Jesus seinen Weg gegangen. Ein Lamm, das der Welt Sünde trägt - das ist der Mann, der Gottessohn, der in unendlicher Geduld und zugleich mit göttlicher Energie den Himmel auf die Erde bringt.

Erkennen, wie ich erkannt bin

Wer sich von den fulminanten Bußpredigten des Johannes damals in Bewegung setzen ließ, tat das aus einem tiefen Erschrecken heraus, der wollte seine Sünden mit dem Wasser der Taufe wegwaschen: Möglichst schnell ein anderer, eine andere werden. Wer sich von Worten und Taten Jesu in Frage stellen lässt, der lernt sich zu sehen, wie er oder sie wirklich ist, wie Gott uns gemeint hat. „Ich werde erkennen, wie ich erkannt bin“, wird es der Apostel Paulus später ausdrücken. Von solcher Wirkung beschreibt das Evangelium die Begegnung mit Jesus: Menschen erkennen durch die Begegnung mit Jesus, wie sie von Gott erkannt sind.

Neuer Name, neue Existenz

Durch diese Art der Begegnung, durch das Erkannt-Sein, wie wir erkannt sind, wird Veränderung, ein neues Leben möglich. Es ist erlösend: Hier sieht jemand, wie ich bin, was ich kann und wo ich nicht vorwärts komme. Hier sieht einer sogar noch mehr, als ich selbst von mir weiß: was ich werden kann. Simon wird zu Jesus gebracht. Obwohl sich die beiden vorher noch nie begegnet sind, sagt Jesus ihm auf den Kopf zu: „Du bist Simon, der Sohn des Johannes. Du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt Fels.“ In Jesu Worten verdichten sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Jesus spricht in zwei Sätzen aus, wer Simon ist, was seine Familienherkunft ist und wer er sein wird. Ein neuer Name steht für eine neue Existenz, für eine neue Ausrichtung des Lebens. Darum erhielten in der jungen Kirche Täuflinge mit der Taufe einen neuen, ihren christlichen Namen. Im Englischen hat sich das bis heute im Sprachgebrauch erhalten: der Vorname heißt auch „christian name“, der christliche Name.

Fels

Simon heißt von nun an auf Hebräisch Kephas, auf Griechisch Petrus, übersetzt Fels. Ein fester Grund, auf den andere sich verlassen können. Ein Fels in der Brandung, ein Mensch, von dem andere in Zeiten von Anfechtungen und Gefahren Stärke und festen Halt bekommen. Fels – ein Zufluchtsort, aber auch ein erhabener Platz, von dem aus man ins Weite schauen kann. Das ist die Berufung des Simon, seine Bestimmung.

Säule, Stufe, Eckstein, Stein des Anstoßes?

Nehmen wir das Bild vom Fels hinein in unsere Gegenwart. Wen kennen Sie, der ist wie ein Simon Petrus: ein Fels, ein starker ruhender Pol, egal wie heftig die Stürme toben, durch den man wieder festen Boden unter den Füßen finden kann? Und welche Berufung steckt in uns? Denken wir das Bild vom Fels, vom Stein für uns weiter und lassen wir den Blick durch unsere Kirche schweifen: was steckt in uns? Säule zu sein, die tragen hilft und eine Ahnung vom himmlischen Aufschwung gibt, der uns verheißen ist? Eine Stufe, die andere empor kommen lässt, die anderen hilft, in ihrem Leben weiter, höher zu kommen, näher zu dem Punkt, an dem Himmel und Erde sich berühren. Ein Eckstein in den Gewölben der Kirchenfenster, der die Spannung von zwei Seiten auffangen kann und dadurch den weiten Rahmen offen hält, durch den Gottes Licht einfallen kann? Ein Stein des Anstoßes, der nerven kann, den es aber dringend braucht, damit keine falsche Harmonieseligkeit den Blick verstellt, sondern Unebenheiten, Brüche erkannt werden. Die Wahrheit liegt im Widerspruch. Oder auch einmal ein Stein irgendwo zwischendrin, der selbst Stütze braucht, ruhen und Kraft aufnehmen will und der, ohne besonders aufzufallen, doch unverzichtbar zum Gesamten dazugehört und nicht fehlen darf. Ich bin gewiss, Gottes Ruf an uns ist so vielfältig, wie wir hier jede und jeder höchstindividuell zusammen sind.

'Il Presidente della Repubblica Sandro Pertini con Madre Teresa di Calcutta', 1978-1985, Unknown

Begegnung verändert

Begegnung verändert. Simon erhält durch die Begegnung mit Jesus einen neuen Namen, ein neues Leben, eine Berufung und Bestimmung. Ich wünsche uns, dass die Begegnung mit Gottes Wort, mit Gottes Gegenwart in unserem Leben uns unsere Berufung finden lässt. Ich nehme aus dem heutigen Evangelium auch den Wunsch, aufmerksam dafür zu sein, was ich in meinen alltäglichen oder besonderen Begegnungen für andere sein kann und was andere für mich sind.

Andere glücklich machen

Von der katholischen Ordensschwester Mutter Teresa wird der Satz überliefert: „Lass nie zu, dass du jemandem begegnest, der nicht nach der Begegnung mit dir glücklich ist.“ Glücklich sein verstehe ich in diesem Satz nicht als eben mal flüchtig ein bisschen gute Laune hinterlassen zu haben. Ich verstehe es als eine Wirkung der Begegnung, gemeinsam eine Inspiration erfahren zu haben, dem anderen menschlich etwas gegeben zu haben, – als Fels, Eckstein, Säule, Stufe, Stein des Anstoßes, als das, was Sie in sich entdecken werden.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Die Animation 'Digital (raytracing) teleidoscope animation', 2010, Nadjas, wurde von ihrem Urheber dem public domain weltweit zur Verfügung gestellt.
Das Gemälde 'Christus erscheint dem Volke', 1837-1857, Alexandr Andreevich Ivanov und dessen Reproduktion gehört weltweit zum "public domain". Das Bild ist Teil einer Reproduktions-Sammlung, die von The Yorck Project zusammengestellt wurde. Das copyright dieser Zusammenstellung liegt bei der Zenodot Verlagsgesellschaft mbH und ist unter GNU Free Documentation lizensiert.
Die Ikone 'Ecce agnus dei', 1455-60, Giovanni di Paolo, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Das Gemälde 'Agnus-Dei: The Scapegoat', between 1886(1886) and 1894, James Joseph Jacques Tissot, ist gemeinfrei, weil ihre urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für alle Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 100 Jahren oder weniger nach dem Tod des Urhebers.
Die Freigabe zur Nutzung dieser Photographie (Die Photographie 'Il Presidente della Repubblica Sandro Pertini con Madre Teresa di Calcutta', 1978-1985, Unknown) wurde im Wikimedia-OTRS archiviert; dort kann die Konversation von Nutzern mit OTRS-Zugang eingesehen werden. Zur Verifizierung kann man jederzeit einen OTRS-Mitarbeiter anfragen.

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