Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Martin Vorländer: Judika - 5. Sonntag in der Passionszeit - „Gegen Gott an Gott glauben“

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'Sacrificio de Isaac', hacia 1616, Pedro de Orrente

Judika - 5. Sonntag in der Passionszeit

„Gegen Gott an Gott glauben“ 1. Mose 22, 1-13
Die Versuchung Abrahams - Die Bindung Isaaks


Predigt gehalten von Pfarrer Martin Vorländer am 10. April 2011 in der Bergkirche und im Kirchsaal Süd

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Amen.

Liebe Gemeinde!

Der Predigttext für den heutigen Passionssonntag ist anstößig, verstörend, erschreckend. Zugleich gehört er zu den großen herausfordernden Texten der Heiligen Schrift und ist von tiefer Bedeutung für jüdischen und christlichen Glauben. In etwas anderer Form wird auch im Koran erzählt, was im 1. Buch Mose im 22. Kapitel aufgeschrieben ist. In der Lutherbibel heißt die Erzählung „Abrahams Versuchung“, in jüdischer Tradition „die Bindung Isaaks“.

  1. Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich.
  2. Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.
  3. Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte.
  4. Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne
  5. und sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen.
  6. Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander.
  7. Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham:Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?
  8. Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander.
  9. Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz
  10. und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete.
  11. Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich.
  12. Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.
  13. Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich in der Hecke mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes Statt.

Gott segne unser Hören und Reden. Amen.

„Du Opfer!“

„Du Opfer!“ gehört zu den messerscharfen Worten, die sich Kinder und Jugendliche auf dem Schulhof an den Kopf werfen. „Du Opfer!“, das drückt totale Verachtung, Demütigung und Erniedrigung eines anderen aus. Opfer – das ist jemand, der schwach ist, der unter einem steht, mit dem man machen kann, was man will, der sich nicht wehren kann gegen allen Spott und alles Leid, das ihm von anderen angetan wird. Das Wort klebt an einem und überdeckt alles, was man sonst ist und sein könnte. Man ist nur noch Opfer, nichts sonst. Kein Mensch will Opfer sein. Kein Mensch will zugeben, dass er jemals in seinem Leben Opfer wurde – obwohl jeder Mensch irgendwann in seiner Biographie zum Opfer wird oder Opfer bringen muss - selbst die starken, scheinbar unverletzbaren Siegertypen.

Welt voller Opfer

Kein Mensch will Opfer sein und doch ist die Welt voller Opfer. Missbrauchsopfer. Todesopfer von menschlicher Gewalt, zur Zeit besonders bei den Aufständen in arabischen Ländern, an der Elfenbeinküste und in den Kriegsgebieten dieser Welt. Unfallopfer wie bei der schrecklichen Massenkarambolage im Sandsturm auf der Autobahn in Mecklenburg-Vorpommern am letzten Freitag. Opfer von Naturgewalten wie bei den scheinbar nicht endenden Erdbeben in Japan und ihren katastrophalen Folgen.

'Devastation after tsunami in Iwaki, Fukushima, Japan.', 2011, ryuki_a_g

Das eigene Leben für andere geben

Unsere Sprache und unser Denken kennt den Ausdruck „sich opfern“: Anderen das geben, was zum Kostbarsten gehört: die eigene Zeit, die eigenen Kräfte, ja, sogar das eigene Leben. Die Arbeiter, die im havarierten Reaktor von Fukushima verzweifelt versuchen, ihr Land und ihre Landsleute vor einer noch größeren atomaren Katastrophe zu bewahren, werden „die Helden von Fukushima“ oder auch nur die „Fukushima 50“ genannt. Sie riskieren ihre Gesundheit und ihr Leben. Sie geben ihr eigenes Leben für das Leben anderer. Was löst das in uns aus? Bewunderung? Entsetzen? Beides?

Was ist das für ein Abraham?

Was löst dieser Abraham in uns aus? Was ist er? Ein fanatischer Fundamentalist, der für seinen Gott sogar den eigenen Sohn opfern würde? Oder ein Mensch völlig Gott ergeben, der, egal was Gott ihm aufträgt, darauf vertraut, dass Gott es schon zu einem guten Ende führen wird? Was ist das für ein Gott, der Blut sehen will? Was ist das für Isaak, der seinem Vater so vertraut, dass er sich ohne ein Wort und ohne Widerstand als Brandopfer binden und auf den Altar legen lässt?

Der erwachsene Isaak fragt…

Man kann sich vorstellen, wie ein erwachsen gewordener Isaak seinen Vater Abraham nach diesem einen Tag fragt. „Mein Vater!“, könnte der junge Mann Isaak sagen. „Hier bin ich, mein Sohn“, antwortet der greise Abraham, wie damals beim Aufstieg auf den Berg Morija. „Damals“, beginnt Isaak stockend. „Damals, als wir gemeinsam gingen – du hast gesagt, um anzubeten – ich habe dich nach einem Opfertier gefragt und du hast geantwortet, Gott wird sich eines aussuchen. Dabei war ich es, ich, dein Sohn, der dein Opfer für Gott sein sollte. Und ich kann mich selbst nicht verstehen: Selbst als ich begriffen hatte, was du vorhast, habe ich mich nicht gewehrt und es geschehen lassen.“

Gott ist der Versucher

Quälende Erinnerungen kommen mit aller Macht in Isaak hoch und mischen sich mit dem, was er heute als Erwachsener weiß. Schauen wir mit Isaak zurück. Gott versuchte Abraham, heißt es am Anfang. Es ist nicht der Teufel wie bei Hiob, der mit Gott eine Wette abschließt und die Frömmigkeit des Hiob mit Schicksalsschlägen auf die Probe stellt. Es ist Gott selbst, der testen will, wie weit der Glaube Abrahams geht. Es ist nicht der „liebe Gott“, nicht der Gott als das vollkommen Gute. Es ist ein dunkler, grausam erscheinender Gott. Es scheint nicht nur sinnlos, sondern geradezu widersinnig, was Gott von Abraham erwartet: Gott selbst hat Abraham große Nachkommenschaft verheißen. Nun soll Abraham den einzig übriggebliebenen Nachkommen – der andere Sohn Ismael wurde ja schon in die Wüste geschickt – opfern.

Keine Widerrede

„Abraham!“, ruft dieser unverständliche Gott. Und Abraham antwortet: „Hier bin ich.“ Das wiederholt sich noch zweimal in der Geschichte: Isaak ruft „mein Vater!“ und Abraham antwortet: „Hier bin ich.“ Zum erlösenden Ende ruft der Engel des Herrn vom Himmel doppelt verstärkt „Abraham, Abraham!“ und Abraham antwortet: „Hier bin ich.“ Das beschreibt eine tiefe Innigkeit zwischen Gott und Abraham, zwischen Abraham und seinem Sohn. Keine Widerrede. Keine Fragen. Wir kennen Abraham auch anders: Er kann hartnäckig mit Gott verhandeln fast wie bei einem europäischen Kuhhandel oder auf einem orientalischen Bazar, als es um die Bewahrung der Menschen in Sodom und Gomorrha geht.

Ein und Alles

Aber hier gibt es keine inneren Zweifel, kein Hadern mit dem Befehl Gottes. Abraham führt bedingungslos, lammfromm den Auftrag Gottes aus. Das hat er schon einmal getan, als Gott ihm befahl: „Geh aus deinem Vaterland in ein Land, das ich dir zeigen will.“ Damals hat Abraham seine ganze Vergangenheit, alles Vertraute von heute auf morgen hinter sich gelassen. Aber hier geht es um viel mehr: Um seinen einzigen Sohn Isaak, den er lieb hat. Er soll sein Ein und Alles, sein Fleisch und Blut, seine Zukunft opfern.

Brandopfer

„Brandopfer“ heißt das Wort in der Bibel. Ein Ritual, bei dem das ganze Opfertier verbrannt wird, nichts übrig bleibt. Das griechische Wort für „Brandopfer“ lautet „Holocaust“. Die Erzählung von der Bindung Isaaks ist für Jüdinnen und Juden von tiefer Bedeutung: mit ihrer Schrecklichkeit, dass Gott anscheinend sein Volk, seine Menschen zum Opfer preisgibt. Mit ihrem erlösenden Ende, dass Gott seinen Engel schickt, der dem Schlächter in den Arm fällt.

'Abraham and Isaac', 1897

Holz auf der Schulter

Abraham ist ganz Täter des Wortes Gottes. Er sattelt selbst den Esel, obwohl er Knechte hat, die das tun könnten. Von Anfang bis Ende legt er selbst Hand an. Drei Tage lang, so erzählt die Bibel, sind sie unterwegs bis zum Berg Morija. Drei Tage, in denen Abraham es sich hätte anders überlegen können. Den letzten Weg zur Opferstätte gehen Vater und Sohn allein, ohne Knechte. Der Vater packt das Feuerholz auf seinen Sohn zum Tragen. Holz wie ein Hinrichtungspfahl. Die Jünger Jesu nach Ostern haben darin einen Bezug zu dem Holz des Kreuzes auf Jesu Schulter gesehen.

Erlösung im letzten Augenblick

Der erwachsene Isaak erinnert sich: Der lange, fast schweigsame und doch zweisame Marsch. Eine Verbindung zwischen Vater und Sohn ohne viele Worte. Der Vater, der Feuer und Messer trägt, damit der Sohn sich nicht schneidet oder brennt. Sein Vertrauen zu diesem fürsorglichen Vater. Und dann der Moment, als dieser Vater ihm Hände und Füße auf den Rücken bindet und ihn auf den Altar legt. Als wäre sie selbst dabei gewesen, beschreibt die Bibel jeden Handgriff: Abraham reckt die Hand aus, greift zum Messer. Da, im letzten Augenblick, ruft der Engel des Herrn: „Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.“

Gegen Gott an Gott glauben

„Warum wolltest du mir das antun?“, könnte der erwachsene Isaak seinen Vater fragen. Abraham könnte Isaak in den Arm nehmen und sagen: „Schau, es ist ja alles gut ausgegangen.“ Aber das wäre eine billige Lösung, die das Entsetzen und die leidvollen Erfahrungen einfach wegschiebt. „Ich habe gelernt“, könnte Abraham antworten. „Ich habe gelernt, dass ich auch das mir Teuerste und Liebste nicht festhalten kann. Ich habe gelernt, dass Gott keine Menschenopfer will. Grausamkeit in Gottes Namen ist himmelschreiendes Unrecht. Niemand kann sich auf Gott berufen, wenn er andere hinmordet oder ihnen die Lebensgrundlage entzieht. Von Anfang an habe ich damals im wahrsten Sinne des Wortes verzweifelt gehofft, dass Gott nicht so ist, wie er mir damals erschien. Ich habe gewissermaßen gegen Gott an Gott geglaubt.“

Mit Narben leben

Der erwachsene Isaak könnte nach diesen Worten eine Zeit lang schweigen und dann sagen: „Trotzdem. Es bleiben Narben.“ „Ja, mein Sohn“, sagt Abraham. „Es bleiben Narben und offene Stellen. Das Erstaunliche ist nur immer wieder, dass man auch mit solchen Narben leben kann. Auch wenn sie nie verschwinden. Ja, dass einem allen Opfern zum Trotz das Leben immer wieder geschenkt wird.“ Der zum Opfer gemacht werden sollte, steht auf zu neuem Leben.

Glauben an das Ende aller Opfer

Gott macht ein Ende mit Menschenopfern. In Jesus Christus durchkreuzt Gott das Opferdenken völlig. Er fordert keine Opfer. Er fordert keine blinden Treue- und Gehorsamsbeweise von seinen Menschen. Er, Gott selbst, gibt uns Menschen den größten Beweis seiner Treue. Er begibt sich in unser Leben, gibt sich selbst ganz und gar hin, nimmt unser Fleisch und Blut an, leidet, was wir zu leiden haben – Spott, Ungerechtigkeit, Gewalt bis zum Tod am Kreuz. Der allmächtige Gott wird ohnmächtig wie ein Opfer. Doch was die Welt noch nie gesehen hat: Christus, der zum Opfer gemacht wurde, steht auf zu neuem Leben. Es bleiben Narben. Es gibt nach wie vor Opfer. Aber mit Abraham und seit der Auferstehung Christi dürfen wir trotz aller Opfer an das Ende aller Opfer glauben. Amen.

Die Photographie 'Devastation after tsunami in Iwaki, Fukushima, Japan.', 2011, ryuki_a_g, ist lizemsiert unter der Creative Commons Attribution 2.1 Japan license.
Das Gemälde 'Sacrificio de Isaac', hacia 1616, Pedro de Orrente, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Das Bild 'Abraham and Isaac', 1897 ist gemeinfrei in den Vereinigten Staaten. Dies gilt für US-amerikanische Werke, deren Urheberrecht erloschen ist, üblicherweise, weil ihre Erstveröffentlichung vor dem 1. Januar 1923 liegt.

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