Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten im Jugendgottesdienst: Selbstjustiz

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'Briefmarke der Deutschen Post AG aus dem Jahre 1999, 50 Jahre Grundgesetz', 1999, Ernst Jünger und Lorli Jünger für das Bundesministerium der Finanzen und die Deutsche Post AG

Selbstjustiz

Predigt gehalten von Katharina Hellwig im Kirchsaal Süd am 29. November 2012:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Ein Gesetz, das vorschreibt, dass die Würde jedes Menschen dieses Landes geschützt werden muss und nicht angreifbar ist. Von niemandem. Jeder muss im Stande sein, seine Würde zu bewahren, jeder muss dies seinen Mitmenschen ebenso zusprechen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist quasi das erste weltliche Gebot, nur das es Gesetz heißt.

Dass meine Würde unantastbar sein soll, ist allerdings eine Utopie. Meine Würde, unsere Würde wird jeden Tag verletzt. Durch Lärm, durch Stress, durch Lebensmittel, die uns nicht guttun, durch die Tatsache, dass unsere Bundesregierung beispielsweise Menschen in Armut leben lässt, die Liste ist unendlich. Das heißt, unsere oberste Regel, unser erster und wichtigster Artikel des Grundgesetzes, wird jeden Tag verletzt. Von uns allen. Denn mit irgendetwas, das wir tun, verletzen wir auch immer wieder die Würde anderer Menschen.

Aber auch sonst nehmen wir es nicht sonderlich ernst mit Gesetzen, Geboten und Regeln. Eigentlich brechen wir sie ständig. Im Kleinen bedeutet das, wir gehen über „rot“, spicken bei Klassenarbeiten oder lügen mal eben, weil es bequemer für uns ist. Im Großen heißt es, wir hintergehen Menschen, die uns etwas bedeuten, klauen irgendetwas, verschaffen uns Vorteile auf Kosten anderer und vieles mehr. Gesetzesbrüche, Regelbrüche und sonstiges stehen bei uns also auf der Tagesordnung.

'Red traffic light', 2005, Open Clip Art Library

Das sieht bei den 10 Geboten, die wir als Christen ja einhalten sollten, nicht anders aus. Ich würde behaupten, dass ich ganz gut liege, wenn ich sage, dass jeder, der sich momentan in diesem Raum befindet, zwischen 2 und 5 Gebote bereits verletzt hat. Denn jeder von uns lügt mal, jeder bringt seinen Eltern mal nicht den nötigen Respekt entgegen, jeder war schon mal neidisch auf etwas, das jemand anderes hatte, jeder war schon mal in irgendeiner Form an einem Gerücht beteiligt u.s.w.

Anscheinend gehört das irgendwie zu unserem Menschsein dazu. Wir sind eben gut und böse und haben die Freiheit, selbst abzuwägen, wann wir gut und wann wir böse sein wollen, müssen für unser Handeln jedoch auch selbst die Konsequenz tragen. Wenn ich beim Spicken erwischt werde, dann bekomme ich wenn ich Pech habe eine 6. Das ist dann halt so. Da kann kein anderer was für außer mir. Im Grunde ist es gerecht, denn ich bevorteile mich durch mein Verhalten gegenüber den anderen und das ist unfair. Wenn ich „schwarz“ fahre und werde erwischt, dann muss ich 40€ bezahlen. Das ist ärgerlich, aber ich wusste ja schließlich schon vorher, dass ich nicht ohne Fahrschein fahren darf. Wenn herauskommt, dass das Gerücht, sie hätte mit einem Typen aus der 9. Klasse rumgeknutscht, von mir stammt, dann wird meine Klassenkameradin vielleicht drei Wochen nicht mit mir sprechen. Da hätte ich wohl besser den Mund halten sollen, wenn ich es nicht genau weiß. Wenn ich beim Fußball foule, dann bekomme ich eine rote Karte und muss vom Platz. Ich wusste auch schon vorher, dass die Blutkrätsche eine dumme Idee ist und sie schiefgehen kann.

Ihr seht also, sowohl gesetzliche als auch soziale Regelbrüche werden in den meisten Fällen durch irgendetwas sanktioniert, es gibt dafür eine Strafe. Im sogenannten StGB, unserem Strafgesetzbuch, steht sehr genau, wie die schlimmen Gesetzesbrüche benannt sind und was sie beinhalten. Im Schulgesetz steht, dass die letzte Strafe einer Klassenkonferenz der Schulverweis ist. Wenn ich mit 30 Km/h zu viel geblitzt wurde, dann kostet das Geld und je nachdem wo ich durchgerast bin, vielleicht auch ein paar Punkte in Flensburg oder gar meinen Führerschein. Wie Ihr seht, leben wir in einem Land, dass voll gepackt ist mit Regeln und Gesetzen und in dem auch noch gleich geregelt ist, was passiert, wenn wir uns nicht daran halten.

Warum ist das gut? (Auch, wenn Regeln manchmal nerven.) Weil nur mit Vorgaben eine so große Menge an Menschen miteinander funktionieren kann. Gäbe es keine Regeln, würde das Chaos und vor allem immer der Stärkere, Reichere, Beliebtere als Sieger hervorgehen und das wäre schlimm. Wir alle sind rational denkende Menschen, können die Verantwortung für unser Handeln übernehmen und müssen dies auch tun. Zum Glück leben wir in einem Rechtsstaat, der uns durch Gesetze sowohl schützt als auch erzieht, denn durch die Gesetze lernen wir auch, was sich gehört und was nicht, was gut ist und was schlecht und was man darf und was verboten ist.

'Selbstjustiz auf einer Straße in Malé, Malediven', 2006, Ibrahim Iujaz aus Republik Malediven

Wenn sich alle so halbwegs daran halten, funktioniert eine Gesellschaft. Problematisch sind jedoch nicht nur die, die die Regeln und Gesetze brechen. Problematisch sind vor allem die, die meinen, sie könnten eigenmächtig darüber entscheiden, was nun gerecht ist oder nicht. Zwei Beispiele habt Ihr soeben in unserem Anspiel gesehen: Die Gerichtsverhandlung ist vorbei. Der Angeklagte wurde frei gesprochen. Man konnte ihm seine Tat nicht beweisen. „In dubio pro reo“, im Zweifel für den Angeklagten. Das war nicht das Urteil, was sich die Angehörigen oder die Geschädigten erhofft hatten. Sie verprügeln nach der Verhandlung den Freigesprochenen.

Oder die Klasse, die den Mitschüler fertig macht, obwohl überhaupt nicht geklärt werden konnte, ob er wirklich das Handy genommen hat. In beiden Szenen habt Ihr klassische Formen der Selbstjustiz beobachten können. Menschen entscheiden plötzlich selbst, was gut und was böse ist. Sie spielen Gott. Sie maßen sich an, selbst zu entscheiden, was die gerechte Strafe ist. Etwas Gefährlicheres gibt es fast nicht, denn der Schritt zur Selbstjustiz, ist der Schritt ins Chaos. So funktioniert unsere Gesellschaft nicht. Der Richter hatte entschieden: Der Angeklagte wird freigesprochen. Das war´s. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen und wenn es noch so weh tut und noch so ärgerlich ist. Die Lehrerin hatte es geklärt. Dem Jungen konnte es nicht nachgewiesen werden. Die Sache hätte zu Ende sein müssen. Aber da sind Wut, Erschütterung, Verletzungen und viele andere unangenehme Gefühle. Manche haben sie nicht im Griff, deswegen sagt man auch: „Sie werden zu Tieren“, denn das sind keine rational denkenden Wesen.

Selbstjustiz hat viel mit Rache zu tun. „Rache, zum Beispiel, ist unstreitig ein unedler und selbst niedriger Affekt“, schrieb Schiller. Da sind wir wieder bei den Tieren. Rache ist nie fair. Rache ist nie gesetzmäßig. Rächen bedeutet, nicht mehr zu denken. Sie verschafft demjenigen ein kurzes Gefühl des Triumphes, das nicht lange anhält und sehr egoistisch ist. Und dann bleibt, wie in unseren beiden Szenen des Anspiels, am Ende immer noch dieser kleine fade Beigeschmack: Und wenn er es am Ende doch nicht war? Und selbst wenn er´s war. Das Gericht hatte entschieden und das Gericht entscheidet als Einziges.

Jeder von uns wird schon einmal mit einem Gefühl von Sympathie für Selbstjustiz konfrontiert gewesen sein. Meistens passiert es dann, wenn man eine absolute Ungerechtigkeit miterlebt. Oder wenn die Wut und die Verletzungen noch so tief sitzen. Der Vater, der den Mann erschießt, der sein Kind missbraucht hat, den werden viele verstehen. Und das, obwohl er einen Menschen umgebracht hat. Man wiegt in seinem Kopf ab: „Das arme Kind. Der hatte es auch nicht anders verdient!“ Oder doch? Natürlich hatte er es anders verdient! Auch Straftäter, die Ungeheures tun, haben ein Recht Teil unseres Rechtssystems zu sein, was denn sonst? Wenn wir das einmal einreißen lassen (und wenn es nur in unseren Köpfen ist), dann gerät das ganze Konstrukt ins Wanken. Denn wenn es heute der Sexualstraftäter verdient hat, dann hat es das in 10 Jahren auch wieder der Ladendieb. Und dann befinden wir uns ganz schnell wieder im Mittelalter und bekommen eine Hand abgehackt oder werden öffentlich ausgepeitscht, wenn wir etwas falsch gemacht haben. Immer da, wo staatliches Gewaltmonopol nicht greift, wo es keine entwickelte Zentralmacht gibt, so wie bei uns, dort herrschen solche Zustände. Jeder, der auch nur ein Hauch in diese Richtung schweift, hat nichts verstanden. Denn die, die Selbstjustiz betreiben, begeben sich auf ein noch niedrigeres Niveau als die, die sie damit angehen.

Regeln sind also gut. Gesetze sind wichtig. Gebote sind nötig. Doch warum gibt es solch eine Fülle an Verboten und Geboten? Warum sind wir ununterbrochen umgeben von ihnen, teilweise heftig eingeschränkt durch sie? Warum brauchen wir überhaupt ein Gesetz, dass noch einmal deutlich ausdrückt, dass töten, stehlen und all das verboten ist? Weil wir schlecht sind. Nur deshalb muss es sie geben. Weil wir sie ständig brechen muss uns explizit gesagt werden, dass es nicht richtig ist, was wir tun. Das ist auch eine Form von Selbstjustiz: Wir setzen uns über Gesetze hinweg. Dabei könnte in der Theorie alles so einfach sein!

2011 hat ein Schriftsteller namens John Niven ein Buch mit dem Titel „Gott bewahre“ herausgebracht.

'Tortosa catedral Huguet Transfiguracio', between 1466 and 1475, Jaume Huguet, Own work. ca:user:amadalvarez

„Gott ist stinksauer. Nachdem Er sich im Himmel eine einwöchige Auszeit für einen Angelurlaub gegönnt hat, kehrt Er nach etwas vierhundertfünfzig Jahren (ein Tag im Himmel entspricht 57 Erdenjahren) wieder zurück an Seinen Schreibtisch und muss mit ansehen, wie die Erde den Bach runtergegangen ist. Umweltsünden, Kriege, moralischer Verfall, kirchliche Hassprediger, skrupellose Kommerzialisierung - die Menschen sind auf dem besten Weg, sich selbst zu zerstören. Und so bleibt Gott nichts anderes übrig, als Seinen Sohn Jesus Christus, dem es im Himmel blendend geht und der mit Jimi Hendrix Gitarre spielt und Joints raucht, wieder auf die Erde zu schicken, um Gutes zu tun und das einzig wahre Gebot SEID LIEB zu predigen.“

John Nevin behauptet in seinem Buch, Mose hätte damals eigentlich nur ein einziges Gebot von Gott diktiert bekommen und dieses laute „Seid lieb“. Im Grunde also die Kurzfassung von „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.“, seid lieb zueinander. So naiv und einfach es auch klingen mag, wenn man sich ernsthaft überlegt, was es bedeuten würde, wenn sich alle daran halten würden, würde man sich dem Ausmaß erst einmal bewusst werden: Jede Form von Gewalt unter Menschen würde verschwinden, Krieg wäre abgeschafft. Keiner wäre einsam. Fairness wäre obligatorisch. Gerichte wären unnütz. Der Aufgabenbereich der Polizei würde sich auf entlaufene Katzen und Ähnliches beschränken. Armeen würden aufgelöst. Es gäbe kaum noch Streit. Viel mehr junge Leute würden gerne in die Schule gehen. Die Menschen würden sich wieder anlächeln.
Ich könnte noch 1000 Seiten darüber schreiben, wie sich unsere Welt verändern würde, wenn wir alle dieses Gebot einhalten würden. Sämtliche anderen Gebote fallen dort hinein. Wer die anderen Menschen liebt, kommt gar nicht in die Versuchung, ein anderes Gebot, Gesetz und anderes zu brechen. John Niven hat also recht: Es ist das einzig wahre Gebot.

Wer schon mal durch die Bücher Mose geblättert hat, findet ewige Aneinanderreihungen, die teilweise an amerikanische Gesetze, wie „Das überqueren der Landesgrenzen mit einer Ente auf dem Kopf ist verboten“ erinnern.
In 3. Mose 18 werden wir beispielsweise darauf hingewiesen, dass wir weder mit unseren Eltern, noch mit unseren Geschwistern, noch mit sämtlichen anderen Verwandten Sex haben dürfen. In Kapitel 15 stehen ungefähr 100 Fälle, in denen man sofort seine Kleider waschen soll. Und dann finden wir dort natürlich auch noch so fürchterliche Dinge wie Auge um Auge und Zahn um Zahn, die im Neuen Testament und vor allem durch Jesus ein paar Jahre später noch einmal überarbeitet werden.

'Love graffiti on Saint Felix street', 2002, Colin Mutchler (activefree) from Brooklyn, United States

Und irgendwo dazwischen, völlig unscheinbar und leicht zu übersehen, da steht er, dieser kleine wichtige Satz: 3. Mose 19, Vers 18 „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.“
Diese 8 Worte sind also die Lösung aller unserer Probleme und Gott war das schon vor ewig langer Zeit klar. Er hat uns bereits damals die Chance gegeben, ihn ernst zu nehmen und wir haben es einfach nicht getan. Ebenso hat er uns vor Selbstjustiz gewarnt. Im 2. Buch Mose steht: „Wenn Männer mit einander streiten und einer schlägt den andern mit einem Stein oder mit der Faust, dass er nicht stirbt, sondern zu Bett liegen muss und wieder aufkommt und ausgehen kann an seinem Stock, so soll der, der ihn schlug, nicht bestraft werden; er soll ihm aber bezahlen, was er versäumt hat, und das Arztgeld geben.“

Überrascht war ich über dieses Gebot des Alten Testaments. So durchdacht und so modern hat Gott das alles konstruiert. Wir Menschen hätten uns einfach nur noch an Gottes Fahrplan halten müssen und dann würde hier gar nichts den Bach runter gehen. Wir sollten also wieder zurückschauen, sollten in der Bibel lesen, sollten feststellen, wie viele schlaue Dinge darin stehen und wie einfach unser Leben wäre, wenn wir uns an Gottes Gebote halten würden. Unser Auftrag als Christen ist es, diese in die Welt zu transportieren. Nächstenliebe zu predigen und Nächstenliebe zu leben. Das bringt nichts, werdet Ihr sagen, aber das stimmt nicht. Irgendjemand muss ja mal damit anfangen! Warum nicht wir? Seid Lieb! Liebt einander. Geht respektvoll, freundlich, liebevoll und wertschätzend miteinander um. Unsere Welt wird dadurch besser werden. Ihr werdet sehen.

Amen.

Das Bild 'Briefmarke der Deutschen Post AG aus dem Jahre 1999, 50 Jahre Grundgesetz', 1999, Ernst Jünger und Lorli Jünger für das Bundesministerium der Finanzen und die Deutsche Post AG, gilt gemäß dem deutschen Urheberrecht als gemeinfrei, weil es Teil der Statute, Verordnung oder ein gesetzlicher Erlass (Amtliches Werk) ist, das durch eine deutsche Reichs-, Bundes- oder Landesbehörde bzw. durch ein deutsches Reichs-, Bundes- oder Landesgericht veröffentlicht wurde (§ 5 Abs.1 UrhG).
Das Clip Art 'Red traffic light', 2005, Open Clip Art Library, entstammt von der Open Clip Art Library, die ausschließlich gemeinfreie bzw. public domain-Werke anbietet, welche unter der Creative Commons Public Domain Dedication Lizenz stehen.
Die Photographie 'Selbstjustiz auf einer Straße in Malé, Malediven', 2006, Ibrahim Iujaz aus Republik Malediven, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution 2.0 Generic license.
Das Gemälde 'Tortosa catedral Huguet Transfiguracio', between 1466 and 1475, Jaume Huguet, Own work. ca:user:amadalvarez, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution 3.0 Unported license.
The Graffitti 'Love graffiti on Saint Felix street', 2002, Colin Mutchler (activefree) from Brooklyn, United States, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution 2.0 Generic license.

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