Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten im Jugendgottesdienst: „Schachmatt“

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„Schachmatt“

Predigt gehalten von Katharina Hellwig im Kirchsaal Süd am 18. November 2010:

'A large chess game inside in Baltimore, MD, USA', Jyothis

In unserem Anspiel eben haben wir das Ende eines Schachspiels beobachten können. „Schachmatt“ sagte der eine Spieler und das Spiel war für sein Gegenüber verloren. Schachmatt, das ist die Bezeichung für eine Stellung auf dem Spielbrett, bei der der König keinen regelgerechten Zug mehr machen kann, um aus seiner Lage herauszukommen. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Persischen und bedeutet so viel wie „der König (Schah) ist geschlagen oder hilflos“. Er stammt von dem Wort „mandan“ ab, das übersetzt „verlassen sein“ bedeutet. Der König wird also am Ende einer Partie nicht geschlagen, sondern bleibt hilflos und seinem Schicksal überlassen zurück. Egal, was er jetzt tun würde, er würde dem Feind ins offene Messer rennen.

Ein anderes Wort für matt im wörtlichen Sinne ist müde. Würde der König also weiterziehen, wäre das lebensmüde. Überträgt man das Spiel auf eine richtige Schlacht, wäre dieses Handeln blanker Selbstmord. Gleichgültig, was der König als nächstes tut, er „stirbt“.

In unserer Lesung hat sich ein Mann bewusst dazu entschieden, seinem Leben ein Ende zu setzen. Dieser ist zwar nicht durch eine Dame in Bedrängnis geraten, aber seine Lebensumstände haben ihn zu dieser entgültigen Handlung getrieben. Getrieben durch die Last des Verrats an Jesus, nahm er sich das Leben. Zu schwer waren die Schuldgefühle, die er wegen Jesu Verurteilung spürte, zu verzweifelt war er über die Tatsache, dass er derjenige war, der Jesus verraten hat. Ging er noch hin zu den Hohepriesetern, wollte ihnen ihr Geld zurückgeben und alles wieder gut machen, doch Jesu Schicksal war besiegelt und er fühlte sich verantwortlich dafür. Damit wollte und konnte er nicht leben. Er hatte den Sohn Gottes verraten und so zu seiner Hinrichting beigetragen, also richtete er sich selbst.

Judas ist nicht das einzige prominente Beispiel für Selbstmörder. Wir finden sie quasi in allen Schichten und Genren:

'Kurt Cobain (vorn) und Krist Novoselic (links) während der MTV Video Music Awards 1992', 1992, P.B. Rage from USA
  • Kurt Cobain, der Frontman der Band Nirvana nahm sich 1994 sehr konsequent mit mehreren Schüssen Heroin und einem aus seiner Schrotflinte das Leben. „It’s better to burn out than to fade away.“, „es ist besser auszubrennen als zu verblassen“, waren die letzten Worte seines Abschiedsbriefes, die er aus einem Lied von Neil Young entnommen hatte.
  • Sigmund Freud, 1939 schon vom Krebs schwer gezeichnet, ließ sich von seinem Arzt eine Überdosis Morphium geben und verstarb durch die von ihm erwünschte Sterbehilfe.
  • Adolf Hitler erlitt am 22. April 1945 einen Nervenzusammenbruch im Führerbunker, nachdem er erfahren hatte, dass die Schlacht um Berlin gar nicht stattgefunden hatte, weil sein SS-Obergruppenführer Steiner diesen Angriff angesichts des ungleichen Kräfteverhältnisses als undurchführbar bezeichnet und den Befehl schlichtweg verweigert hatte. Die Kapitalation war für Hitler nicht zu ertragen und er verteilte in den Tagen danach unter seinen engsten Vertrauten Giftpillen wie Bonbons. Am 30. April 1945 erschoss er sich selbst.
  • Kleopatras Tod konnte zwar nie zweifelsfrei als Selbstmord festgestellt werden. Man vermutet jedoch, dass sie sich aus Trauer um ihren toten Mann und wegen der politisch ausweglosen Situation mit Schlangengift das Leben nahm.
  • Andreas Baader, der Kopf der Roten Armee Fraktion erschoss sich 1977 in seiner Gefängniszelle in Stammheim, nachdem die Erpressung der Bundesregierung, die zu seiner Freilassung führen sollte, nicht glückte und setzte seinem Leben genau wie seine Mitstreiter Gudrun Ensslin, Ulrike Mainhoff und Holger Mains ein Ende.
  • 1890 erschoss sich Vincent van Gogh auf offener Straße. Die Gründe sind nicht ganz geklärt. Möglicherweise, weil seine Liebesbeziehung zu einer Frau von deren Vater nicht geduldet wurde oder weil er durch seinen Tod eine Preissteigerung seiner Werke zugunsten seines jüngeren Bruders erhoffte. Es könnte aber auch ein missglückter Hilfeschrei gewesen sein.

An den prominente Beispielen sehen wir schon die Vielfältigkeit der Gründe, warum sich Menschen dazu entschließen, sich umzubringen. Der statistisch am häufigst benannte Grund für Suizid sind psychische Erkrankungen, wie Depressionen. Aber auch Lebenskrisen, wie die Trennung vom Partner, Versagensängste oder wirtschaftlicher Ruin treiben Menschen in den Tot. Dicht gefolgt von chronischen Schmerzen und Sucht.

Was wir auch an den Beispielen erkennen können ist, dass Männer und Frauen zu unterschiedlichen Methoden neigen, wenn es um Selbstmord geht. Während Männer die „härteren“ oder entgültigeren Methoden wie Erhängen oder Erschießen bevorzugen, neigen Frauen dazu, sich zu vergiften oder Schlaftabletten zu schlucken. Auch begehen Männer durchtschnittlich häufiger Selbstmord als Frauen. So sind zwei Drittel der Selbstmörder Männer, nur ein Drittel Frauen. Das liegt vor allem daran, dass Männer sich entgültig für Selbstmord entscheiden, Frauen durch einen Suizidversuch jedoch häufig lediglich laut nach Hilfe und Aufmerksamkeit rufen.

In Deutschland begehen jährlich ca. 10.000 Menschen Selbstmord. Das ist nur ein Zehntel der Anzahl, die einen Selbstmordversuch hinter sich haben. Diese Zahl liegt bei über 100.000. Das bedeutet, dass jährlich eine Gruppe von Menschen, die ungefähr so groß ist wie alle Einwohner von Sachsenhausen und Nordend zusammen, einen Selbstmordversuch unternimmt.

'Sadness', 1864, Julia Margaret Cameron

Noch erschreckender ist allerdings, dass die meisten Menschen in ihrem Leben schon einmal die Möglichkeit in Betracht ziehen oder darüber phantasiert haben, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Besonders der Übergang vom Jugendlichen- zum Erwachsenenleben ist eine Zeit, die so viele Veränderungen, Anforderungen und Erschütterungen mit sich bringt, dass sich zeitweise die Frage nach dem Sinn des Lebens qualvoll aufdrängen kann. Man sucht ihn, den Sinn des Lebens, und manchman findet man ihn einfach nicht.

Es gibt Internetseiten und Beratungsstellen, die sich ausschließlich mit diesem Thema beschäftigen. Man kann Notrufnummern wählen, als Betroffener, aber auch als Angehöriger. Es gibt Fachkräfte im Bereich Psychologie und Sozialarbeit, die sind auf dieses Thema spezialisiert und machen Lösungsvorschläge oder Krisenintervention.

Wenn heut zu Tage in unserer Gesellschaft sich jemand das Leben nimmt, sind alle Hinterbliebenen schockiert. Jeder fragt sich nach dem großen Warum. Besonders dann, wenn es keinen Abschiedsbrief gibt oder keinen Therapeuten, der davor gewarnt hatte. Man bleibt ratlos zurück und gruselt sich vor dieser konsequenten und nicht mehr rückgängig zu machenden Entscheidung. „Wir hätten etwas merken müssen!“, „Dem hätte ich das nie zugetraut!“ - Ja, hinterher sind wir immer schlauer.

Die gesellschaftliche und christliche Bewertung von Selbstmord hat sich sehr verändert. Obwohl die Bibel keinen deutlichen Standpunkt vertritt, ist man lange Zeit davon ausgegangen, dass das Gebot Du sollst nicht töten auch für das eigene Leben zutrifft. Früher war Selbstmord deshalb geächtet. Selbstmörder durften nicht auf dem Friedhof begraben werden, sondern mussten in ungeweihter Erde bestattet werden. Die Familien wurden gemieden. Man war der Meinung, das Leben gehöre Gott und man verletze durch Suizid Gottes Herrschaft. Heute hat die Kirche nicht mehr so eine harte Haltung gegenüber diesen Menschen. Sie steht Suizid zwar immer noch kritisch gegenüber, doch stigmatisiert sie nicht mehr so sehr wie früher. Ein jüngstes Beispiel des Umgangs der Römisch-Katholischen Kirche mit einem Suizid ist die Abhaltung der Totenmesse für Hannelore Kohl, die Frau von Kanzler Kohl, im Dom zu Speyer.

Wenn man das Leben als Geschenk Gottes betrachtet, so hat dies einen sehr selbstbestimmenden Charakter. Mit einem Geschenk kann ich im Prinzip machen, was ich will. Ich kann es annehmen oder nicht. Ich kann es nutzen oder nicht. Ich kann es verwenden, für was ich es will. Ich kann selbst Entscheidungen treffen, die mein Leben bestimmen: Welchen Beruf ich erlerne, wen ich heirate, wo ich leben will. Dazu gehört auch, ob ich leben will. Gott hat mir die Möglichkeit gegeben, es zu tun. Ob ich es mache oder nicht, liegt letztendlich an mir.

Überraschend ist nicht, dass vor allem Menschen betroffen sind, die alleinstehend, verwitwet oder geschieden, also alleine sind. Verheiratete oder Leute in festen Beziehungen begehen seltener Selbstmord, vor allem dann, wenn es Kinder gibt.

Warum ein Mensch beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen, kann tausende Gründe haben. Die eben benannten waren nur Beispiele und gehen meistens ineinander über: Liebeskummer, Kündigung, Krankheit, Verlust eines anderen Menschen und viele anderen Umstände können einen dazu bringen. Doch wenn wir uns diese 5 Gründe näher betrachten, werden wir feststellen, dass jeder Mensch, der ein bestimmtes Alter erreicht hat, mit all diesen Situationen konfrontiert wird und sich deshalb noch nicht zwangsläufig umbringt. Warum ertragen es manche und machen weiter und manche nicht?

Vielleicht finden wir die Antwort in Beziehungen. Menschen in festen Beziehungen begehen seltener Selbstmord als Alleinstehende. Ein großer Faktor scheint also Einsamkeit zu sein. Der Mensch ist nicht gemacht zum Alleinesein, doch viele sind es trotzdem. Niemand, der sie in den Arm nimmt, wenn sie nach einem anstrengenden Tag nach Hause kommen. Niemand, der fragt: „Alles in Ordnung mit Dir? Du siehst so traurig aus!“ Niemand, der da ist, wenn man einen Rat bräuchte. Keinen, den man anrufen könnte... ein hartes Los, das man niemandem wünscht. Und doch sind sie unter uns, diese Menschen die keinen haben und wir bemerken sie nicht. Und genau das ist die Tragik, dass wir sie nicht bemerken. Genau deshalb sind sie ja alleine mit sich und ihren Sorgen. Ein geglückter und auch ein versuchter Selbstmord (wobei geglückt wirklich das falsche Wort ist, aber auch erfolgreich trifft es nicht wirklich...?) sind ein Zeichen dafür, dass das Umfeld versagt hat. Dass die Mitmenschen, die von Nöten gewesen wären, nicht da waren. Dass die Nächstenliebe fehlte. Doch das will ich in keinem Fall verallgemeinern! Gerade, wenn Depressionen o.ä. im Spiel sind, bleiben oftmals verzweifelte Angehörige und Freunde zurück, die jahrelang ein Helfernetzwerk für die betroffene Person aufrecht erhalten haben und trotzdem keine Chance hatten, gegen die dunkle Seite in deren Leben anzukämpfen.

Trotzdem möchte ich aufmerksam darauf machen, dass es unter uns verzweifelte Menschen gibt, die darauf angewiesen sind, dass wir ihre lautlosen Hilfeschreie hören. Oder die durch unser Handeln verzweifeln. Weil wir ignorant sind, weil wir demütigen, weil wir ausschließen. Jan Delay beschreibt diese Gruppe von Menschen sehr treffend in seinem Lied „Kirchturmkandidaten“. Dort heißt es:

'depression/loss of loved one', 2009, Baker131313

„Manche Leute haben Nerven dick wie Drahtseile, andre wiederum nur Nerven dünn wie Zahnseide. Diese Labilen sind der Grund, wenn ich sag: behandelt andre immer so, dass ihr das Echo vertragt. Denn da oben auf der Kirche da steht einer und ist sauer, er ballert in die Luft und schreit: "Fight the Power!" Ihr habt ihn solang unter Druck gesetzt und darum solltet ihr euch alle lieber ducken jetzt...All das Geläster und Gelächter beim Job, deshalb hat er jetzt ne Baretta und ne Heckler & Koch. Wegen den Witzen damals über seine Aldi-Klamotten, sind deine Reifen zerstochen und die Scheiben zerschossen. Auch die Steuerprüfung die hat er nie ganz verdaut, darum macht ihr Bekanntschaft mit seiner Panzerfaust. Ihr habt ihn alle unter Druck gesetzt und darum solltet ihr euch alle lieber ducken jetzt.“

Jan Delays Lied beschreibt zwar eher einen Rachefeldzug als einen leisen und einsamen Selbstmord, aber wie wir alle wissen, endet ein Zeitungsartikel über einen Amoklauf meistens mit den Worten: „...anschließend richtete er die Waffe gegen sich selbst.“
Wer sind also unsere Kirchturmkandidaten? Sind es unsere Mitschüler, die wir auslachen, weil sie anders sind als alle anderen? Sind es unsere Arbeitskollegen, die wir die ganze Drecksarbeit machen lassen, die wir nicht machen wollen? Ist es die Nachbarin, die wir nicht grüßen, weil die immer so komisch schaut? Ist es der Lehrer, den wir mit Papierkugeln bewerfen und „Fettsack“ nennen? Wer sind sie? –Wir wissen es erst, wenn es zu spät ist. Wenn der Platz in der Klasse hinten links eines Morgens leer bleibt. Wenn der Herr Müller um 12:00 immer noch nicht an seinem Schreibtisch sitzt, obwohl der doch normalerweise so pünktlich ist. Wenn irgendwann ein Schild am Haus hängt: „Wohnung zu vermieten“. Oder wenn plötzlich die Fahne der Schule auf Halbmast hängt.
Dann ist es leider zu spät. Dann haben wir bereits versagt, in unserer Nächstenliebe, in unserem Menschsein, in unserem Christsein. Waren zu beschäftigt mit uns und haben gar nicht gemerkt, dass wir andere (sogar wenn wir gar nichts tun) mit unserem Verhalten verletzt und alleine gelassen haben. So weit darf es nicht kommen.

„It’s better to burn out than to fade away.“, „es ist besser auszubrennen als zu verblassen“, Kurt Cobains letzte Worte, will auch ich am Ende noch einmal aufgreifen. In anderen Worten könnte man diesen Satz auch mit „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ beschreiben. Es beschreibt das Gefühl, selbst die Notbremse ziehen zu müssen, bevor etwas Unerträgliches passiert. Unerträglich ist in dem Fall das Verblassen. Unsichtbar werden, für sich und andere. Nicht mehr greifbar und als leere Hülle durchs Leben ziehen oder durch das, was davon übrig ist. Dieses Gefühl muss unerträglich sein. So sehr, dass man lieber seinem Leben ein Ende setzt, bevor man sich gar nicht mehr spürt. – Ein großer Knall und alles wird dunkel.
Ob es danach besser ist, dass wissen sie nicht. Aber für sie kann es danach nur besser werden. Denn wenn die Hölle schon auf Erden ist, was soll danach schon Schlimmes kommen?
Das Leben als Geschenk Gottes gibt uns die Möglichkeit, es zu nutzen. Es gibt uns aber auch die Verantwortung für unsere Mitmenschen, ihnen zu helfen, wenn sie den Nutzen gerade nicht finden.

Amen.

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