Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Jürgen Seidl: Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres Jer 8,4 - 7

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'Petrus und der schreiende Hahn', 1979 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Petrus und der schreiende Hahn', 1979
Walter Habdank. © Galerie Habdank

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres

Jer 8,4 - 7

Predigt gehalten von Pfarrer Jürgen Seidl am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, dem 18.11. 2007 in der Dreikönigskirche in Frankfurt am Main.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen. Amen.
Der Predigttext für den heutigen vorletzten Sonntag des Kirchenjahres steht im Buch des Propheten Jeremia im 8. Kapitel.

So spricht der Herr: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für?
Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, daß sie nicht umkehren wollen. Ich sehe und höre, daß sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was habe ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.
Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen. Jer 8,4 - 7

Ich will so bleiben wie ich bin. Das, liebe Gemeinde, war mal ein Werbespruch. Schön, wenn man das sagen kann. Schön, wenn einem das gesagt wird: Bleib, wie Du bist. Das hören wir gern, denn das bedeutet Anerkennung und Bestätigung. Wir haben Eigenschaften und Charakterzüge, von denen wir einander nur wünschen können, daß wir sie behalten. Ich will so bleiben wie ich bin – manchmal ist dieser Satz aber auch gefährlich und sinnlos.

Aus den Worten des Propheten Jeremia spricht Fassungslosigkeit. Er trägt im Namen Gottes eine bewegende Klage vor. Eine Klage über die lebensgefährliche Sturheit des Volkes, das sich unaufhaltsam in die Katastrophe stürzt. Der Prophet beschreibt in bewegenden Bildern einen unbegreiflichen Zustand, den er nicht ändern kann, sondern den er fassunglos mitansehen muß.

Das Volk rennt in sein Verderben wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt. Nicht mehr zum Stehen zu bringen, unfähig zur Umkehr, einer unkontrollierbaren Eigendynamik verfallen, wie vom Teufel geritten. Nicht in der Lage oder nicht willens, die eigene Situation zu erkennen und richtig einzuschätzen, das Recht mißachtend, verstrickt in Lebenslüge und Selbstbetrug, verstockt und verblendet - so rennt das Volk in sein Verderben.

Dieses Verhalten spricht der Logik des gesunden Menschenverstandes Hohn. Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? fragt Jeremia. Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? Wo in aller Welt gäbe es ein gegenteiliges Verhalten? Wer gefallen ist, steht wieder auf. Wer sich verirrt, geht zurück. Normal ist das und selbstverständlich.

So normal und selbstverständlich wie das Verhalten der Zugvögel. Störche, Turteltauben, Kraniche und Schwalben wissen, wann es Zeit ist umzukehren. Die Zugvögel spüren, wann sich der Sommer neigt. Sie weichen rechtzeitig vor dem nordischen Winter. Sie fliegen nicht in ihr Verderben, sondern in den warmen Süden. Sie wissen, wann sie wiederkommen sollen. Sie halten sich an die Ordnung des Lebens.

Doch das Volk Gottes will das Recht des Herrn nicht wissen. Es hält sich nicht an die Weisung Gottes zum Leben. Es mißachtet die Lebensordnung Gottes, tritt das Recht mit Füßen und hält fest am falschen Gottesdienst. Es will nicht umkehren. Können Menschen so dumm sein, fragt der Prophet, wo doch sogar die Tiere wissen, was zu welcher Zeit zu tun ist?

Bei diesem unfaßbaren Verhalten geht es nicht um das Versagen von Heiden oder erklärten Atheisten, sondern um das Volk Gottes. Das steigert die Absurdität des Falles. Gerade diejenigen, die es besser wissen müßten und besser wissen könnten, erweisen sich als die Unbelehrbaren.

In der Klage des Propheten spiegelt sich die Erfahrung vieler Jahre: eine verfehlte Außenpolitik, mißbrauchte Religion, soziale Arroganz, Agression gegen den Kritiker und Mahner. Der Prophet Jeremia weiß, wovon er redet. Er hat das Volk Gottes Jahrzehnte hindurch auf seinem Weg ins Verderben begleitet. Er hat immer wieder im Namen Gottes zu diesem Volk geredet und ist dafür angefeindet und mißhandelt worden. Und er hat schließlich mit diesem Volk das Schicksal der Verbannung geteilt.

Warum? fragt der Prophet Jeremia. Warum? fragt Gott. Warum will dieses Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Wo noch nach dem Warum gefragt wird, liebe Gemeinde, ist die Liebe noch nicht gestorben. Gott kommt nicht los von seinem Volk. Er hat sich nicht gleichgültig von ihm abgewandt. Er schaut nicht unbeteiligt zu, wie es sich in die Katastrophe stürzt. Gott fragt in seiner enttäuschten und verletzten Liebe: Warum nur?

Warum ist keiner da, dem seine Bosheit leid ist? Warum ist keiner da, der innehält und sich bestürzt fragt: Was habe ich doch getan? Warum will dieses Volk weiter in die Irre gehen? Warum nur? Die Möglichkeit zur Umkehr ist doch da. Der Weg zum Leben ist doch gewiesen. Warum geht ihn denn keiner? Warum laufen alle in ihr Verderben?

Gibt es eine Antwort auf diese Fragen? Theologen können Erklärungen geben: Die Macht der Erbsünde verhindert die Umkehr des Sünders. Oder: Sünde ist ein Zustand zerstörerischer Abhängigkeit, eine Sucht oder Krankheit gegen die der Mensch machtlos ist. So wie ein Alkoholiker, der es alleine nicht schafft, der Hilfe von anderen braucht, um gesund zu werden.

Vielleicht wollen diese Fragen aber auch gar keine Erklärung. Vielleicht sind sie ein letzter verzweifelter Versuch, die Menschen wachzurütteln und doch noch zur Umkehr zu bewegen. Menschen, die verlassen und verraten werden, fragen auch "Warum?". Und sie wollen keine Erklärung, sondern sie sagen damit: "Tu mir das nicht an. Mach doch nicht alles kaputt. Komm doch zurück."

Rabbi Bunam sagte: Die große Schuld des Menschen sind nicht die Sünden, die er begeht - die Versuchung ist groß und seine Kraft ist gering. Die große Schuld des Menschen ist, daß er in jedem Augenblick die Umkehr tun kann und nicht tut.

Im Blick auf Gott mag uns das einleuchten. Wir, die wir hier zum Gottesdienst versammelt sind, wissen daß Gott unsere Schuld vergibt, wenn wir sie bereuen und bekennen. Doch immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft sehen in einem solchen Schuldbekenntnis keinen Sinn mehr. Für sie ist das Schuldbewußtsein ein christliches Grundübel.

Dementsprechend haben die Worte Umkehr und Buße keinen guten Klang. Sie haben für viele etwas bedrückendes, so wie der November mit seinen Gedenktagen: Heute ist Volkstrauertag und am Mittwoch Buß- und Bettag. Umkehr und Buße sind zwei typische Kirchenbegriffe. Wir verbinden sie mit sich klein machen und sich schlecht fühlen. Warum ist das so – wo es doch eigentlich ganz anders gemeint ist?

Vielleicht liegt es daran, daß in unserer Gesellschaft vor allem die uneingestandene Schuld anderer ein Thema ist. Viele machen die Erfahrung: Gott vergibt, die anderen nie. Schuld wird aufgedeckt, um Menschen fertig zu machen. Es wird gefragt: Hat jemand etwas getan, was ihm vorgeworfen werden kann - auch wenn es lange zurück liegt? Es folgen Anklagen und Abrechnungen, Geständnisse und Rechtfertigungen. Wenn Menschen von den Taten ihrer Vergangenheit eingeholt werden, schlägt die Stunde der Richter. Die Öffentlichkeit und die Medien sind gnadenlos. Wer da Schwäche zeigt ist meist verloren.

Gott ist anders. Gott ist gnädig und barmherzig und von großer Güte. Er will nicht den Tod des Sünders, sondern seine Umkehr. Die christliche Gemeinde ist deshalb der Ort, wo Schuld eingestanden und vergeben werden kann. Das geschieht in der persönlichen Seelsorge, aber auch in Sündenbekenntnis, Beichtfrage und Gnadenzuspruch im Gottesdienst.

'The Repentant Peter', El Greco, c. 1600

Doch das bedeutet nicht, daß wir danach weitermachen wie bisher. Die Beichte zielt auf eine Änderung des Lebens, auf die Abkehr vom Bösen und die Hinwendung zum Guten. Vor Gott sind Umkehr und Neuanfang möglich. Das setzt freilich voraus, daß wir uns erinnern und der eigenen Vergangenheit stellen. Und daß wir den Schmerz über Verfehltes und Versäumtes aushalten.

Das ist mitunter sehr schwer. Verschweigen und vertuschen, verdrängen und vergessen liegt uns oft näher. Erinnern kann unangenehm sein. Doch menschliches Miteinander braucht Erinnerung: an große Leistungen und mutige Veränderungen, aber auch an fatale Irrtümer und scheußliche Verbrechen.

Erinnerung konfrontiert uns irgendwann mit Schuld. Schuld ist ein Teil unseres Lebens. Die Frage ist, wie wir mit dieser Schuld umgehen. Viele sagen: Das geht niemanden etwas an. Mein Leben ist meine Privatsache. Das mache ich mit mir aus. Was ich tue oder lasse, was ich richtig oder falsch mache, geht nur mich etwas an.

Das ist schon deshalb falsch, weil menschliches Leben immer in einen Zusammenhang gehört. Wir gehören zu einer Familie, zur Nachbarschaft, haben Freunde und Bekannte, sind vielleicht Mitglied in einem Verein oder gehören zur Kirchengemeinde. Niemand lebt für sich allein. Unser Verhalten hat Konsequenzen für andere, so oder so.

Wer schuldig wird, braucht Vergebung. Aber niemand kann sich selbst vergeben. Schuld kann bekannt werden. Doch Vergebung kommt von außen. Sie muß uns zugesprochen werden.

Nicht immer gelingt das. Menschen urteilen und verurteilen. Sie heben oder senken schnell den Daumen über das Leben anderer, ohne es wirklich zu kennen. Das Interesse an der Benennung von Schuld ist so groß, daß man leichter Vorverurteilungen riskiert als Ratlosigkeit erträgt. Deshalb leugnen Menschen ihre Schuld voreinander, verbergen ihre Schwäche und machen sich sogar selbst etwas vor. Niemanden wagen wir so dreist zu belügen wie uns selbst, hat Alfred Polgar einmal gesagt. Da ist etwas dran.

Doch in der Lüge kann man letztlich nicht leben. Schuld und Selbstbetrug beeinträchtigen und zerstören das Leben. Menschen, die nicht bereit sind, ihr Leben zu korrigieren, die verstrickt sind in Lebenslügen und Verirrungen, laufen am Ende in ihr Verderben. Die Folge der Sünde ist der Tod.

Es ist daher eine gute Nachricht, daß wir uns von der Güte und Liebe Gottes zur Umkehr bewegen lassen können. Auch wenn es schwer fällt. Auch wenn es Rettung manchmal erst in letzter Sekunde gibt, dann wenn es auch schon hätte zu spät sein können. Billiger ist Erlösung vom Bösen oft nicht zu haben.

Doch wir können den Weg zum Leben finden. Den Weg in eine Welt, wo man aufstehen will und aufstehen kann, wenn man gefallen ist; wo man wieder zurechtkommen kann, wenn man sich verirrt hat; wo man nicht einfach blind weitermacht, wenn man sich vertan hat – und sei es nur aus Angst das Gesicht zu verlieren; wo man umkehren kann, wenn man einen falschen Weg eingeschlagen hat. Im Glauben an Gott können wir diese einzigartige Chance nutzen.

Aufgrund der Liebe und der Barmherzigkeit Gottes können wir als Christen im Blick auf die Schuld unseres Lebens sagen: Was haben wir doch getan! Was haben wir doch getan! - wie schwer kann dieser Satz sein und doch auch: wie erleichternd. Was haben wir doch getan! - wir können das sagen im Vertrauen auf die Güte Gottes. Wir vertrauen darauf, daß Gott uns in seiner Liebe den Weg zum Leben finden läßt.

Amen

Die Abbildung des Gemäldes 'The Repentant Peter', El Greco, c. 1600, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat.
© Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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